Kitzingen, 12.03.022. Notwohngebiet: 15 einstige Bewohner der vier ramponierten Blocks in der Kitzinger Siedlung haben neue Bleibe gefunden. 90 sind noch vor Ort.
Der große ockergelbe Block ist fast geräumt. In der Tannenbergstraße 37 leben nur noch ganz wenige Menschen. Die drei anderen, teils sehr heruntergekommenen Häuser des Kitzinger Notwohngebiets beherbergen noch immer 90 Frauen und Männer. Was soll mit diesen Menschen geschehen? Werden sie, wie 15 vor ihnen, eine neue, bezahlbare Bleibe außerhalb des stigmatisierten Areals am Stadtrand (Ecke Egerländer Straße/ Tannenbergstraße) finden?
Alleingelassen werden die Bewohner nach wie vor nicht. Aber sie bekommen zum Teil neue Ansprechpartner. Sowohl in der ehrenamtlich organisierten Begegnungsstätte Wegweiser als auch in der seit 2018 agierenden professionellen Sozialberatung sind Umstrukturierungen im Gang.
Caritas-Sozialpädagogin Christina Flurschütz ist in Elternzeit gegangen, für sie ist Nina Becker gekommen. Die 39-Jährige war vor zwei Jahren schon einmal im Notwohngebiet Kitzingen tätig und weiß daher genau, was während ihrer 20 Wochenstunden auf sie zukommt. „Ich freue mich auf die Arbeit mit den Menschen!“, sagt die Mutter eines Kindes, die aus Lohr am Main stammt, aktuell in Kitzingen wohnt und mit ihrer Familie demnächst nach Marktbreit ziehen wird.
Weiterhin an der Seite der Notwohner steht Melanie Kühn. Als Vollzeitkraft in der ökumenischen Sozialberatung betreut sie Frauen und Männer, hilft denen, die nicht weiter wissen, ihr Leben „auf die Reihe zu kriegen“; andere unterstützt sie dabei, die Hände von Drogen und Betäubungsmitteln zu lassen, sich bei Behörden und potenziellen Arbeitgebern zu melden und vieles mehr. Auch die Umzüge der ersten 15 Menschen in städtische Wohnungen außerhalb des „Ghettos“ hat die 36-Jährige mitorganisiert. „Umziehen – das ist für Menschen, die mitten im Leben stehen, schon eine Herausforderung. Noch viel mehr gilt das für unser Klientel.“ Viele könnten sich kaum Umzugskartons leisten, geschweige denn haben sie Familien oder Freunde mit Fahrzeugen, die ihnen beim Umzug helfen könnten. „Dazu kommt dann noch, dass man sich über die Jahre im Notwohngebiet arrangiert hat – und große Angst hat vor etwas ganz Neuem und Unbekanntem.“ Deshalb möchten Kühn und Becker gern ein Netzwerk von ehrenamtlichen Helfern aufbauen, die sich der Menschen im Notwohngebiet annehmen. „Es muss ja nicht immer gleich eine vollständige Sozialpatenschaft sein. Oft reicht es schon, wenn sich jemand bereit erklärt, beim Umzug zu helfen, Kartons ein- und auszupacken, Lampen anzuschließen oder kleine Handwerkstätigkeiten auszuführen.“
Bisher hat das Wegweiser-Team stets genügend Ehrenamtliche mobilisieren können. „Ohne diese Hilfe hätten die Umzüge nicht funktioniert“, sagt Melanie Kühn. „Überhaupt ist der Wegweiser eine wichtige Stütze für uns. Neulich erst wurde uns jemand zugewiesen, der bis dato keinerlei Unterstützung bekam. Der Mensch hätte abends hungrig schlafen gehen müssen, wenn es im Wegweiser keine Lebensmitteldosen für solche Fälle gegeben hätte.“
Netzwerk knüpfen
Der Kontakt zwischen Sozialberatung und den Ehrenamtlichen vom Wegweiser ist gut. Doch die Umstrukturierungen machen sich auch im früheren Caféstüble bemerkbar. Langjährige Wegweiser-Engagierte ziehen sich Stück für Stück zurück. „Umso wichtiger ist es, dass wir immer neu an einem Netzwerk knüpfen, das stark genug ist, den Menschen Halt zu geben“, erklärt Melanie Kühn.
Wie viele Frauen und Männer es wohl einigermaßen problemlos aus dem Notwohngebiet heraus und in dezentrale Wohnungen schaffen können? Melanie Kühn glaubt: „Theoretisch können es fast alle schaffen, wenn man sie entsprechend begleitet. Viele leben jahrzehntelang im gleichen Trott und brauchen diesen einen, großen Schubser, der sie in ein anderes Leben befördert.“ Nina Becker wiegt bei diesen Worten den Kopf hin und her. „Man darf aber nicht vergessen, dass viele Bewohner abhängig sind, etwa von Betäubungsmitteln, und vielfach psychisch belastet.“
Melanie Kühn fasst zusammen: „Manche Dinge, die jahrzehntelang schiefgelaufen sind, können wir nicht ausmerzen. Aber wir können immer wieder kleine Kurskorrekturen hinbekommen.“ In jedem Fall seien die Lebenswege von Notwohnern sehr oft „Fälle, die nicht nach einer Schablone abgearbeitet werden können“.
Sozialwohnungen sind rar
Deshalb sei der Caritasverband, über den die beiden Sozialpädagoginnen angestellt sind, auch fortlaufend im Dialog mit den Verantwortlichen der Stadt. Die Verträge von Kühn und Becker enden turnusgemäß Ende September. „Aber die Arbeit endet natürlich nicht“, stellt Bernhard Christof fest. Der Bereichsleiter Gefährdetenhilfe bei der Caritas Würzburg rechnet mit einer nahtlosen Fortsetzung, „denn die Arbeit hier trägt ja wirklich Früchte“. Während die Polizei früher manch[1]mal Dauergast in der Egerländer Straße 22 bis 26 war, ist es hier jetzt vergleichsweise ruhig und friedlich. Die 2018 vom Stadtrat umgesetzte Sofortmaßnahme, nämlich eine Verbesserung der Situation durch soziale Beratung und ein Krisenmanagement vor Ort, habe funktioniert. „Es ist klar, dass die Arbeit hier im Notwohngebiet sich verändert und eine neue Ausrichtung bekommt“, stellt Bernhard Christof fest. „Wir helfen den Menschen, die aus dem Areal ausziehen, in der Stadtgesellschaft anzukommen.“
Zu den 15 Frauen und Männern, die das schon geschafft haben, sollen heuer weitere „fünf bis zehn“ dazukommen, so Kühn. Einfach ist es nicht, Wohnraum für sozial Schwächere zu finden. Bürgermeister Stefan Güntner sagt: „Wir versuchen aktuell so viele Personen wie möglich in städtischen, aber auch vereinzelt in Wohnungen der Bau-GmbH unterzubringen.“ Oberste Priorität hat für den OB, „dass wir im ersten Schritt das Gebäude in der Tannenbergstraße 37 leer bekommen, um es im Anschluss direkt abzubrechen.“
Auf der entstehenden Fläche soll ein Neubau errichtet werden – wie groß und für wen, ist aber noch offen. Im zweiten Schritt werde es darum gehen, auch die Gebäude in der Egerländer Straße 22, 24 und 26 zu räumen. „Dazu werden sicher auch zusätzliche Wohnungen benötigt. Wie wir hier konkret vorgehen, ist noch nicht im Detail geklärt“, stellt Güntner fest. „Wir haben noch die Spitze der Breslauer Straße, die bebaut werden kann.“ Generell laufe die Vorbereitung für Umzüge gemeinschaftlich: „Wer wann und wohin umziehen kann und soll, dazu stimmen sich Frau Haaf von der Stadt, Frau Hick von der Bau-GmbH und auch unser dort eingesetzter Hausmeister Herr Arnold regelmäßig ab“, erklärt der OB.
Unabhängig davon hat der Stadtrat bereits vor fast einem Jahr beschlossen, für Obdachlose ein neues, robustes Gebäude für bis zu 30 Personen zu errichten – auf der Rasenfläche, auf der sich aktuell der Bolzplatz befindet. Wann mit dem Bau dieser Obdachlosenunterkunft begonnen wird, steht noch nicht fest.
Ehrenamtliche gesucht
Wer will dem einen oder anderen Bewohner der Egerländer Straße 22-26 (nicht nur) beim Umzug helfen oder hat handwerkliche Fähigkeiten? Bitte melden bei den Sozialarbeiterinnen Melanie Kühn, 09321/ 1409689, melanie.kuehn@caritas-wuerzburg.de, oder Nina Becker, 09321/ 1409688, nina.becker@caritas-wuerzburg.de.
Diana Fuchs